Russland: Rien ne va plus in den Spielhöllen

Mit 1. Juli müssen die Spielhöllen in Russlands Städten ihre Pforten schließen. Casinos werden landesweit in vier Zentren gebündelt. Die Infrastruktur dafür fehlt jedoch.

Moskau. Das Entscheidungsmerkmal zwischen Tag und Nacht muss nicht unbedingt die Helligkeit sein. An Orten, an denen das Licht immer gleichmäßig gedämpft ist, übernehmen andere Phänomene diese Funktion. Dass er seit vier Stunden im Dienst ist, erfährt Andrej etwa von der Varieté-Sängerin. Pünktlich um 21.30 Uhr tritt sie im Casino des Moskauer Hotels Korston auf die Bühne und wiederholt ihre sanften Melodien, die die Spieler zum Verweilen einladen sollten. Andrejs Augen sind längst glasig. Der Rauch der Zigaretten frisst sich unter die Lider. Der Staub aus dem roten Teppich reizt ebenso wie der Schlafmangel. Zum x-ten Mal wirft der 27-jährige Croupier heute die Kugel auf die rotierende Roulettescheibe, bittet die Tischrunde um ihre Einsätze, um dann das Ritual wieder zu beenden: „Rien ne va plus“, so der müde Befehl – „Nichts geht mehr.“

Zusperren oder umsiedeln

Ab morgen, Mittwoch, ist das Ritual erst einmal überhaupt zu Ende. Mit 1. Juli hat die Regierung das Glücksspiel in den Städten verboten. Alle Casinos müssen ihre Roulettetische und einarmigen Banditen abmontieren. Sie müssen entweder zusperren oder in eine jener vier Sonderzonen umsiedeln, auf die das Glücksspiel künftig konzentriert sein wird: in die von der EU umschlossene Exklave Kaliningrad, ans östliche Landesende Wladiwostok, ins südsibirische Gebirgsgebiet Altaj oder ins südrussische Gebiet Krasnodar.

Am 1. Juli, um 00.00 Uhr, werde man schließen, meint Anatolij Kusnezov, Präsident des „Korston“. Die „Vergnügungsstadt“, wie sich das Korston selber nennt, werde umfunktioniert: Die riesigen Spielhallen würden zu Konferenzsälen oder teilweise zu einem Unterhaltungszentrum für Kinder. „Okay, ich habe meinen Beruf nach acht Jahren satt“, sagt Andrej: „Aber warum man plötzlich alles räumt, kann ich mir nicht erklären. Ist es nicht dumm, in Zeiten der Krise auf die Steuereinnahmen zu verzichten?“

24 Mrd. Rubel (etwa 700 Mio. Euro) hat das Glücksspiel 2008 in die Staatskasse gespült. Ein Pappenstiel im Vergleich zu den Einnahmen aus dem Rohstoffsektor. Eine Folge aber auch der niedrigen Besteuerung. Etwa 25.000 Dollar zahlt ein Betreiber pro Spieltisch im Jahr an den Fiskus, erzählt Andrej: „Aber wissen Sie, was da täglich umgesetzt wird?“ Auf etwa sechs Mrd. Dollar wird der Jahresumsatz beim Glücksspiel geschätzt. Über das Ausmaß der illegalen Hallen in dieser oftmals schwer kriminalisierten Branche gibt es nur dürftige Angaben.

Wladimir Putin ging es offenbar nicht um die Steuereinnahmen. Als er im Oktober 2006 die Spielbranche ins Visier nahm, sprach er von psychosozialen Beweggründen. Das Spiel sei wie eine „Alkoholisierung der Bevölkerung“, meinte er. In der Tat haben viele Menschen aufgrund der schwierigen sozialen Lage nicht nur beim Alkohol Zuflucht gesucht, sondern ihre Hoffnungen auch auf das Glücksspiel gesetzt.

Auf wen die Schar von Casinoangestellten künftig setzt, bleibt offen. An die 11.000 Personen stehen laut Arbeitsamt allein in Moskau vor der Entlassung. In der Branche selbst spricht man von 350.000 in ganz Russland. In Zeiten der Krise für viele ein schwerer Schlag, da das Gehalt als Croupier mit 2000 Dollar pro Monat überdurchschnittlich hoch war.


„Wer will an den A. der Welt?“

Bleibt eine Arbeit in den Sonderwirtschaftszonen. „Doch wer will tausende Kilometer an den A. der Welt fahren?“, meint Andrej: „Außerdem ist dort nichts, zumindest nicht in den nächsten 20 Jahren!“

In der Tat sind Russlands künftige Spielzonen bislang nicht viel mehr als eine Fiktion. Überall fehlt die Infrastruktur. Der Chef der Bundesagentur für die Sonderwirtschaftszonen, Andrej Alpatov, hält fest, dass die neuen Zonen „frühestens in vier bis fünf Jahren“ funktionsbereit sind.

Um Zeit zu gewinnen, hat der Sektor beim Präsidenten um Aufschub gebeten. Vergeblich. Als einzige Schlupflöcher erlaubt das russische Gesetz Wettbüros oder die Umregistrierung der Spieleinrichtung zu einem Sportklub für Poker, das seit zwei Jahren als Sportart anerkannt ist. Einige gehen diesen Weg. Andere Casinobetreiber aber ziehen aus Russland in Nachbarstaaten ab.

Korston hat bereits ein Hotel im Urlaubsdorado Montenegro erworben, wie die Zeitung „Wedomosti“ berichtet. Dorthin werde die gesamte Moskauer Spieleinrichtung überstellt. Und ab Herbst werde man Charterflüge für seine Spieler organisieren.

Andrej fährt nicht mit. Nach acht Jahren des Mangels an Sonnenlicht geht er erstmals auf Urlaub.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2009)