"Stärker nach Gefahr regulieren"

Stuttgart - Ungefährliche Glücksspiele wie Lotto sind in Deutschland zu stark reguliert, gefährlichere wie das Automatenspiel in Spielhallen dagegen zu wenig. Dieses Fazit hat der Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim, Professor Tilman Becker, am Dienstag im Landtag bei einer Anhörung des Finanzausschusses gezogen.

Der Staat müsse stärker nach der Suchtgefahr der jeweiligen Angebote differenzieren, forderte Becker bei einer Bestandsaufnahme zwei Jahre nach Inkrafttreten des Glücksspielstaatsvertrages. Harmlose Glücksspiele wie die Klassen- oder die Fernsehlotterie, bei denen es gar keine Suchtgefahr gebe, litten zu Unrecht unter Werbebeschränkungen. Dagegen floriere das Automatenspiel, das schnell zur Sucht werden könne, in vielen Städten weitgehend unreguliert. "Die Welt wird da auf den Kopf gestellt", befand der Glücksspielexperte.

Als Konsequenz empfahl er unter anderem, Zugangskontrollen zu Spielhallen einzuführen; dazu eigneten sich etwa die in anderen Staaten bereits gebräuchlichen "Spielkarten". Die Chefs der landeseigenen Glücksspielbetriebe, Friedhelm Repnik (Toto-Lotto) und Otto Wulferding (Spielbanken), dürften Beckers Analyse gerne gehört haben. Sie beklagten im Landtag ebenfalls die Diskrepanz zwischen ihren stark regulierten Angeboten, dem weniger eingeschränkten gewerblichen Glücksspiel und den kaum zu kontrollierenden Spielofferten im Internet.

Der am Gemeinwohl orientierte Glücksspielstaatsvertrag, der das staatliche Monopol mit scharfen Auflagen verband, habe sich im Wesentlichen bewährt, bilanzierte Repnik. Entgegen manchen "Unkenrufen" sei er auf nationaler und europäischer Ebene auch gerichtlich bestätigt worden. Während der Markt insgesamt wachse, seien jedoch teils erhebliche Rückgänge bei den staatlichen Anbietern zu verzeichnen. Einen "dramatischen Einbruch" hätten die Sportwetten zu verzeichnen. Obwohl der Staat hier das Monopol habe, erwirtschafte er nur noch fünf bis zehn Prozent der Umsätze. "Das ist schon bemerkenswert", meinte der Lotto-Chef. Man brauche attraktivere Angebote, um gerade junge Erwachsene wieder stärker zu erreichen. Dazu sei es notwendig, das Internet in einigen Bereichen für das staatliche Glücksspiel zu öffnen; derzeit ist es für Lotto und andere tabu.

Kaum Kontrolle von Online-Glücksspielen möglich

Auch der Spielbanken-Chef Wulferding regte eine entsprechende Lockerung an. Der Auftrag, den Spieltrieb der Bevölkerung zu kanalisieren, gelte schließlich auch für das Internet. Er beklagte einen "enormen Zuwachs" bei den illegalen Online-Glücksspielen, die sich fast nicht kontrollieren ließen. Nach Schätzungen gebe es im Internet 2000 verschiedene Anbieter - von der kleinen Klitsche bis zur Aktiengesellschaft mit der Kapitalisierung eines Konzerns. Da sie ihren Sitz meist in Steuerparadiesen im Ausland hätten, seien sie kaum zu fassen. Aber auch bei den Spielhallen gebe es eine "unglaubliche Dynamik" - auch zulasten der staatlichen Kasinos. In anderen Bundesländern habe dies bereits dazu geführt, dass sie kräftig Personal abbauen mussten und sich praktisch als unverkäuflich erwiesen.

Der Vorsitzende des Automatenverbandes Baden-Württemberg, Michael Mühleck, hatte in der Anhörung keinen leichten Stand. Seit die Spielverordnung 2006 novelliert wurde, habe die Branche ihren Umsatz zwar von 2,5 auf vier Milliarden Euro bundesweit gesteigert, berichtete Mühleck, europa- oder weltweit sei Deutschland mit Pro-Kopf-Ausgaben von jährlich 45 Euro aber immer noch "absolutes Schlusslicht". Die Österreicher verspielten durchschnittlich 200 Euro im Jahr, die Japaner 400 Euro und die Australier sogar 600 Euro. Mühleck bemühte sich, den Glücksspielcharakter des Automatenspiels zu relativieren: "Bei uns kann niemand reich werden." Mit Umsätzen von 13 Euro pro Stunde sei der Besuch in der Spielhalle ein "kleines Freizeitvergnügen". Krankhaftes Glücksspiel finde dort nicht statt.

Dem widersprach Günther Zeltner von der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart. Nach Untersuchungen kämen bis zu 30 Prozent der Erträge in Spielhallen von suchtgefährdeten Kunden: "Die Branche lebt von Problemspielern." Die Spielverordnung von 2006 trage dem Sucht- und Gefährdungspotenzial "nicht angemessen Rechnung", kritisierte Zeltner. Zudem wichen Spieler, die bei den Spielbanken gesperrt seien, in die Spielhallen aus. Die Zahl der pathologischen Spieler in Baden-Württemberg bezifferte der Experte auf 13.000 bis 39.000, die der Problemspieler auf 26.000 bis 78.000. Nur ein bis drei Prozent von ihnen erreiche man mit Hilfsangeboten. Wünschenswert wäre eine Quote von zehn Prozent, doch dafür brauche man mehr Personal. Zeltner regte an, eine Landesfachstelle Glücksspiel zu schaffen. Der Landtag will nun in einer Arbeitsgruppe über Konsequenzen aus der Anhörung beraten.

Hintergrund: Lotto und Spielbanken verlieren - Spielhallen gewinnen

Toto-Lotto

Bei der staatlichen Toto-Lotto-Gesellschaft kannte der Trend in den vergangenen Jahren fast nur eine Richtung: bergab. Lagen die Einnahmen im Jahr 2001 noch bei 1,1 Milliarden Euro, betrugen sie 2008 etwa 865 Millionen Euro. Im ersten Halbjahr 2009 zeichnet sich dagegen ein Zuwachs von 6,5 Prozent ab. Der vermutete Grund: bis Ende Januar bildete sich ein Jackpot von bis zu 35 Millionen Euro, der viele zum Spielen reizte; außerdem gab es zwei zusätzliche Sonderauslosungen. Ans Land führte die Lotto-GmbH zuletzt 360 Millionen Euro ab.

Spielbanken

Noch deutlicher war die Abwärtsbewegung bei den drei staatlichen Spielbanken im Land. In Stuttgart, Baden-Baden und Konstanz betrug der Bruttospielertrag im Jahr 2005 noch 106 Millionen Euro. 2008 lag er bei nur noch gut 75 Millionen Euro, für 2009 zeichnet sich ein weiterer Rückgang ab. Dafür werden mehrere Gründe vermutet: eine strenge Nichtraucherregelung, umfassende Zugangskontrollen beim Automatenspiel sowie die wachsende Konkurrenz durch Spielhallen und durch illegale Online-Angebote im Internet.

Spielhallen

Kräftig zugelegt hat dagegen das gewerbliche Automatenspiel in Spielhallen. Von 2000 bis 2008 nahm die Zahl der Konzessionen in Baden-Württemberg um 44,1 Prozent zu (gegenüber 5,1 Prozent im Bund) – das Land hatte hier offenbar gewaltigen Nachholbedarf. Parallel dazu stieg die Zahl der Spielhallenstandorte um 28,6 Prozent und die Zahl der Geräte um 71,3 Prozent. Trotzdem ist die Spielhallendichte immer noch geringer als im Bundesdurchschnitt: Die Einwohnerzahl je Konzession beträgt im Südwesten 6456, bundesweit sind es 5566.

Quelle: stuttgarter-zeitung.de