Legal oder illegal: Der gerechte Krieg um Geld und Karten
Trotz Rezession floriert Poker in Zürich: legale Turniere, aber auch illegale Runden um hohe Einsätze. Und durch das Internet entsteht ein neuer Beruf: Pokerprofi.


«Verbotenes?» Melville, ein Mann mit undefinierbarer Haarfarbe und wachen Augen, grinst. «Verbotenes macht denen, die nicht dabei waren, ein schlechtes Gewissen. Sie glauben, sie hätten etwas verpasst. Die Wahrheit ist oft nüchterner. Bei illegalen Pokerrunden etwa gibt es wenig Glamour. Die meisten Spieler dort sehen aus, als wären sie aus einer Röhre gekrochen.»

Melville ist ein Mann von 39, Theaterautor und Pokerprofi. Und ausserdem der Top-Blogger der Zürcher Pokerspieler-Website Pokerfacez.net. Er erklärt, wie die illegale Pokerszene funktioniert: «Im Sommer läuft nicht viel. Zu heiss. Aber im Frühling liefen sechs bis acht regelmässige Poker-Games die Woche. Man bekommt ein SMS: ‹Heute Abend wieder Bingo, Brauerstrasse!›. Oder: ‹Das heutige Orangenwerfen geht weiter in der Zypressenstrasse›. Dort treffen sich dann die Spieler: in einer Garage, einer Wohnung, einem Partykeller. Meist mit einer Bar mit dem Üblichen: Cola, Sandwiches, billigem Whiskey.»

«Die Bullen kommen wie im Film»

Zu illegalen Pokerrunden kommen: risikofreudige Secondos, ältere Schweizer aus der Agglomeration, einige Kunstszenetypen, Herren aus dem Milieu und manchmal Hausfrauen. Der Grundeinsatz beträgt pro Runde meist 5 Franken, das heisst, bei zwei Leuten mit guten Karten kann es schnell um 500 Franken gehen. Den sichersten Profit macht der Gastgeber, der Prozente von jedem Gewinn kassiert. «Über 1000 Stutz pro Abend liegen locker drin. Dafür trägt der Organisator das Risiko: Kommt eine Razzia, zahlen sie bittere, bittere, bittere Bussen.

Für die Spieler ist das Risiko begrenzt: Die Bullen dürfen nur loses Geld in deiner Tasche beschlagnahmen. Seitdem besitze ich ein Portemonnaie.» Und passiert das oft? «Die Gefahr ist allgegenwärtig: durch die Verlierer. Solche, die sich beschissen vorkommen. Und dann einen Tipp geben. Wenn die Bullen dann einfahren, kommen sie wie im Film. Mit Türeintreten, Masken, Gewehren. Wobei ich das nie gesehen und nur gehört habe. Und mit jeder Weitererzählung werden die Gewehre grösser und die Masken fürchterlicher.»

Wäre Melville der Goldgräber, so wäre sie die Dame, die Ausrüstung in die Goldfelder verkauft: Claudia Chinello. Sie betreibt einige Pokerlounges, eine Pokerschule und organisiert Pokerevents für Firmen. Poker ist in seiner harmloseren Form, mit Turnieren von 20 bis 500 Franken, seit knapp einem Jahr legal. Seitdem füllen sich in Zürich und Umgebung grössere und kleinere Pokerbars - je schlechter das Wetter, desto voller. Die kleineren Turniere werden von allen möglichen Leuten besucht. Die teureren von Herren zwischen 25 und 40.

Chinello: «Der grosse Unterschied im Poker ist der zwischen Spielern, die sagen: ‹Es ist Glück. Ich spiele zur Entspannung.› Das sind meist die Verlierer. So wie die Secondos mit dem Testosteron. Die verlieren auch. Und dann gibt es die, die sich weiterbilden, etwa in unserer Pokerschule. Das sind oft die Schweizer. Je gebildeter Leute sind, desto höher steigen ihre Chancen: schon allein, weil die besten Bücher über Poker oft nur auf Englisch erhältlich sind. Ausserdem haben Frauen mehr Chancen. Sie spielen oft sehr, sehr vorsichtig. Wenn eine Frau viel Geld setzt, werfe ich meine Karten weg. Das hat für mich Vorteile. Ich spiele aggressiv, gegen mein Image - und die Männer kriegen Angst und gehen raus.»

Pokern ist harte Arbeit

«Pokern ist nicht Glück», so der Profi Melville. «Poker ist ein Hochleistungssport.» Sein Tagesverlauf sieht etwa so aus: aufstehen, beim Kaffee im Internet die Pokerforen durchlesen, beim Frühstück das Spiel der letzten Nacht analysieren, duschen, zwei Stunden auf den Pokerseiten im Netz auf sechs Tischen gleichzeitig spielen, joggen, die Nachmittagssession analysieren, ein Lehrvideo studieren, eine weitere Session von zwei Stunden im Internet.

Das Gehalt im Monat ist manchmal null, manchmal «weit höher als deins» und im Schnitt das eines mittleren Angestellten. Was Melville am Pokern gefällt, ist die Idee der Gerechtigkeit: «Alle wollen offen dasselbe: das Geld der anderen. An einem Abend entscheidet das Glück. Aber auf lange Sicht kriegt es der, der am härtesten dafür gearbeitet hat. Keine Spielchen. Keine Intrigen. Kein Vitamin B.» Und Melville arbeitet hart: Er geht zum Krafttraining, kauft Bücher und Lektionen bei Pokercoaches.

Das illegale Spiel im Hinterzimmer ist für ihn nur ein Hobby. «Sicher, Livespieler sind meist drei oder vier Levels schwächer als die im Netz. Dort trittst du gegen die Besten der Welt an - live nur gegen die Besten Zürichs. Aber das Netz ist lukrativer. Während ich an einem Tisch pro Stunde 25 Hände spiele, sind es im Internet 360. Das eliminiert den Zufall wirksamer.» Der Grund, warum er trotzdem gelegentlich in einer Garage spielt, ist Neugier: «Man lernt Leute kennen, die man sonst nie sieht. Bei Poker steigen viele aus ihrem Loch: einsame, bittere Herren, Zuhälter, die Secondos und die Typen, von denen du weisst, dass sie ihre Unterhose einmal im Monat wechseln. Aber jeder ist am Tisch willkommen. Selbst Leute, die du hasst. Denn du willst ja ihr Geld.» Und deshalb liebt Melville Poker. Poker ist für ihn ein Kriegsspiel, aber mit Chancen für jeden: «Poker ist ein Wettbewerb, bei dem es keine andere Eintrittskarte braucht, als dabei sein zu wollen. Bei anderen Wettbewerben - etwa Jobs - braucht es Aufnahmeprüfungen. Oder zumindest Sozialkompetenz. Beim Poker genügt der Kauf von Chips. Du bist Herr deines Glücks. Niemand steht dir im Weg, nicht einmal dein schlechter Charakter. Das nenne ich Freiheit.»

Quelle: tagesanzeiger.ch