- 15. März 2009
Im Paradies, Untergeschoss
Unter dem Ortsschild von Las Vegas wächst eine zweite
surreale Stadt - für Obdachlose.
Es ist voll im Paradies, bunt und laut. Touristen aus aller Welt drängeln sich in Busladungen vor einem Schild, auf dem in neonbunten Buchstaben steht: "Welcome to fabulous Las Vegas".
Jared McMillen
Willkommen im sagenhaften Las Vegas, in der Weltstadt des Glücksspiels mit Hunderten Casinos und Hotels, zweihunderttausend Glücksspielautomaten, vierzig Millionen Touristen pro Jahr und elf Milliarden Dollar an Casino-Umsätzen.
Vor genau 50 Jahren wurde das Neonschild errichtet. Seit 1959 musste es immer wieder nach Süden umgesetzt werden, wenn wieder mal ein neues Casino aus dem Wüstenboden wuchs, hier, im Stadtteil, der Paradise heißt.
Es ist dunkel im Paradies, kalt und feucht. Es riecht nach kalter Erde, Spinnweben hängen von der Decke, eine Ratte huscht davon im Kegel seiner Taschenlampe. Matthew O'Brien stolpert weiter, nur ein paar Meter unter dem Neonschild, und doch in einer anderen Welt.
Seit Jahren schon erkundet O'Brien, 38, die Unterwelt von Las Vegas. Morbide Faszination lockte ihn her. Ein Mann hatte seine Freundin und deren Sohn umgebracht, die Tochter vergewaltigt, die Polizei verfolgte ihn, riegelte das Viertel ab, aber er schien verschluckt von der Erde. Er war in die Kanalisation geflohen. Das war im April 2002.
O'Brien, damals Anfang dreißig, recherchierte das Leben des Mörders und schrieb eine Serie darüber für das Stadtmagazin "CityLife". Dann tauchte auch er ab.
Er kündigte seinen Job als Redakteur und wurde ein Reisender durch die Unterwelt. Seine Ausrüstung: Trekkingstiefel, ein Diktiergerät, eine Wollmütze, um sich nicht den Kopf an niedrigen Rohren blutig zu schlagen, eine Taschenlampe, die im Notfall auch als Schlagstock funktioniert, sowie ein paar Dollarnoten als "Mugging Money", Geld, um Räuber zu besänftigen.
Er lief und rutschte und kroch rund 500 Kilometer durch die Dunkelheit. Vor anderthalb Jahren erschien sein Buch "Beneath the Neon", Unter dem Neon, eine Reportagesammlung mit Porträts von Junkies und Spielern, Kriminellen und Poeten. An Thanksgiving packte er Konservendosen und Decken in den Rucksack und feierte mit den Tunnelbewohnern.
"Ich habe mich mit einem geisteskranken Mörder beschäftigt und eine ganze Parallelgesellschaft gefunden", sagt er, dann hört man im Dunkeln ein Rascheln.
"Wer ist da?", fragt eine Stimme. Eine Plastikplane versperrt den Weg. "Ich bin's", sagt Matt O'Brien. Vorsichtig schlägt er die Plane zur Seite. Und steht in so etwas wie einer Wohnung. Eine Matratze, aufgeständert auf umgestürzten Einkaufswagen. Kisten mit Kleidung, ein Tisch mit einem Wecker, zwei Mountainbikes.
O'Brien stellt sich vor, er leuchtet sich dabei selbst ins Gesicht, eine Geste der Höflichkeit. "Hallo, ich bin Jazz", sagt der Mann unter der Bettdecke, "und das ist Sharon." Sie leben in einer Gegenwelt. Tagsüber schlafen sie, nachts machen sie oben "Silver Mining": Sie streifen durch die Casinos und suchen nach Geld, das betrunkene Glücksspielgäste vergessen haben.
Seit neun Jahren leben Jazz und Sharon hier, seit der Tunnel als "Storm Drain" gebaut wurde, als Abflussrohr, um bei Regen das Wasser von einem Golfplatz abzuleiten, damit die Fundamente des Casinos nebenan nicht unterspült werden. Wenn es regnet, werden die Tunnel zu Todesfallen, eine Flutwelle reißt Baumstämme, Abfall und ganze Autos durch die Röhren. "Wenn es hinten in den Bergen regnet", sagt Jazz, "dauert es nur ein paar Minuten, dann ist das Wasser knietief; daher habe ich das Bett aufgeständert."
Seine Karriere ist typisch: Sucht, Knast, Obdachlosigkeit. Sein rechtes Bein ist rot angeschwollen, eine Entzündung, aber er hat keine Krankenversicherung.
"Ich habe dein Buch gelesen, Matt", sagt Jazz. "Ich habe sogar ein signiertes Exemplar", sagt Sharon. Als wäre das Buch der Beweis dafür, dass die Menschen hier nicht ganz unten sind, sondern Teil der Glitzerwelt oben.
Auch für O'Brien wurden die Tunnel zur zweiten Heimat. Jenseits der Neongewitter sucht er eine Subkultur voller Tiefe und Ernst. Gern zieht er Parallelen zu christlichen Katakomben in Rom und Kappadokien, zum Vietcong, zu Orpheus und Eurydike, zu Dante.
Weiter durch die Dunkelheit, durch Pfützen, vorbei an Lagern, an ordentlich gemachten Betten mit Kuscheltieren, an vollgekackten Matratzen, an Feuerstellen mit Spritzen, an Graffiti-Motiven mit Totenschädeln. "Halt, wer ist da?", kommt es immer wieder ängstlich aus einem Gang. "Was zum Teufel machst du hier?"
Auch unter Obdachlosen herrscht Wohnungsnot, mittlerweile leben einige hundert Menschen in den Tunneln, das größte Camp umfasst 16 Bewohner.
Die besten Orte sind längst besetzt, Neuankömmlinge müssen immer tiefer ins Dunkle ziehen, wo es kein Licht gibt, wo tückische Gasansammlungen die Luft vergiften, wo es keinen Ausweg gibt, wenn die Flut kommt.
Die Obdachlosigkeit in den USA ist im vergangenen Jahr um zwölf Prozent gestiegen. Der Stadtrat von Las Vegas reagierte bereits 2006, indem er die Ausgabe von Essen an Obdachlose in öffentlichen Parks verbot. Die Verordnung wurde zunächst aufgehoben, weil Bürgerrechtler klagten.
Ein paar Lager weiter taucht ein Lichtschacht auf. Oben im gleißenden Licht thront Caesars Palace, ein luxuriöses Hotel mit 3300 Zimmern. Baumaschinen dröhnen, ein neuer Trakt wird geschaffen, die Spaßfabrik trotzt der Krise.
Lange vor Fertigstellung des Hotels sind die ersten Gäste eingezogen, unterirdisch.
Quelle: <a href="http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,611972,00.html">http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,611972,00.html</a>
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